Friction. Spannungen,
Spaltungen und produktive Störungen aus Geschlechterperspektive

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19. Arbeitstagung der Kommission für Geschlechterforschung und Queere Anthropologie der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft (DGEKW)

19.-21. Juni 2025 in der Alten Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen

Ausgehend von der Einsicht, dass menschliches Zusammenleben prinzipiell reibungsvoll ist (Bonacker 2009, Mouffe 2014), fragt die Tagung in Göttingen danach, wie manche Reibungskonstellationen ins Konflikthafte, Gewaltvolle und Spaltende münden, während andere Spannungen und Differenzen ausgehalten werden, gar als erwünscht gelten oder produktiv-störend etwas Neues entstehen lassen. Aus kulturanthropologischer und geschlechtertheoretischer Perspektive gilt es, Antworten empirisch-ethnografisch und unter Berücksichtigung der Kategorien Geschlecht und Sexualität zu suchen. Entsprechend fragt die Tagung, welche Bedeutungen unterschiedliche Akteur:innen bestimmten geschlechtlichen, sexuellen u. a. Differenzen zuschreiben, welche Mittel und Arenen für die Austragung von Konflikten um bspw. Geschlechtergerechtigkeit gewählt werden und ihren Verlauf beeinflussen, sowie wie größere gesellschaftliche Verwerfungslinien alltägliche Lebens- und Handlungsmöglichkeiten formen, beschränken oder ermöglichen. Mit dieser Fokussetzung möchte die Tagung aktuelle wissenschaftliche Ergebnisse zu Reibungsdynamiken im Bereich Geschlecht/Sexualität aus unterschiedlichen Forschungsfeldern bündeln, um mittels eines empirisch fundierten Verständnisses von Friktionen global wie lokal polarisierende und spaltende Dynamiken besser zu verstehen.

Antonio Gramscis 1926 geprägter Begriff des Interregnums wird aktuell wieder zur Beschreibung der politischen und kulturell-ideologischen Krisen und damit einhergehender Polarisierung und Konsensunfähigkeit fruchtbar gemacht (Laufenberg 2022). Nicht selten kristallisieren sich Spannungen um die Themen Geschlecht/Sexualität und werden in einem unversöhnlichen Freund-Feind-Register verhandelt (Wielowiejski 2024). Zahlreiche Studien sind jüngst entstanden, die empirisch untersuchen, wie globale und gesellschaftliche Verwerfungen entlang einer Vielzahl an „Triggerpunkten“ (Mau et al. 2023) die Lebensrealitäten und -möglichkeiten unterschiedlicher Akteur:innen formen, begrenzen oder ermöglichen: So wird gestritten um den Umgang mit sexualisierter Gewalt (Künzel/Bolz 2024) und mit als sexistisch und queerfeindlich dargestellten muslimischen Männern (Hark/Villa 2017) sowie um reproduktive Rechte (Fröhlich et al. 2022), so dass neue Fragilitäten gerade für mehrfach diskriminierte Gruppen entstehen (Bayramoglu/Castro Varela 2021). Im Zuge dieser politischen Verschiebungen ist die Geschlechterforschung selbst zur Reibungs- und Angriffsfläche geworden (Näser-Lather 2023, Hark 2017).

Gleichwohl haben sich zahlreiche soziale Bewegungen und aktivistische Projekte gegründet, die gewaltvollen Spaltungsprozessen entgegentreten und zugleich nach einem neuen Gemeinsamen suchen (Hark 2021, Hark et al. 2015). Anknüpfend an eine etablierte empirisch-kulturwissenschaftliche Bewegungsforschung richten aktuelle Forschungen ihren Blick darauf, wie feministische oder queere Bewegungen in Reibung mit einem als gewaltvoll erlebten Status quo gehen (Heywood 2018), sich fortwährend intern um Ziele und den Umgang mit Differenzen streiten (Gutekunst 2021), solidarische und sorgende Bündnisse formen (Zengin 2024, Seeck 2021) und zugleich solidarische Zukunftsutopien jenseits enger Geschlechternormen und Regulierungen erlebbar machen (Sistenich 2025, Faust 2019).

Die erwähnten Vereindeutigungsbestrebungen werfen auch Fragen nach dem Umgang mit geschlechtlicher Uneindeutigkeit sowie nicht-normativen Körpern und Lebensweisen auf. Während die Liberalisierung im späten 20. Jahrhundert zu einer Vervielfältigung geschlechtlicher und sexueller Lebens- und Beziehungsweisen führte und neue Freiheiten und Rechte für marginalisierte Gruppen ermöglichte (Laufenberg 2022), untersuchten die frühen Queer Studies das produktiv-störende Potential nicht-normativer und nicht-normierbarer Subjekte, wie der „female masculinity” (Halberstam 1998) oder der „gender trouble maker” (Butler 1990). Sie zeigten, wie transgressive Figuren politisch-transformativ im Sinne der Unterbrechung und Irritation dominanter Geschlechterverhältnisse wirken können. Diese Möglichkeitsräume sehen sich gegenwärtig durch Re-Traditionalisierung, rechten Autoritarismus und „rohe Bürgerlichkeit“ (Heitmeyer 2012) bedroht, so dass die Tagung verbliebene Spielräume vermessen und Zugehörigkeitsbedingungen eruieren möchte.

Schließlich richtet die Tagung den Fokus auf die eigene Arbeitspraxis: Die ethnografische Feldforschung ist von der intensiven Interaktion zwischen Forscher:in und Forschungspartner:innen geprägt und stellt Forscher:innen damit vor die Herausforderung, epistemologische Differenzen und zwischenmenschliche Spannungen zu navigieren und methodisch zu nutzen. Die Kulturanthropologie hat methodische Instrumente entwickelt, „Reibung als Potential“ (Faust et al. 2021) zu nutzen, „epistemic disconcertment“ (Verran 2001) zu analysieren und Agonismus strategisch einzusetzen (Wielowiejski 2024). Zugleich fordern kritische Ansätze dazu auf, sich zu jenen geschlechterpolitischen Konflikten zu verhalten, von denen die Forschungsfelder durchkreuzt werden. Die Methoden reichen von Formen der Parteinahme, Fürsprache und politischen Interventionen (Binder/Hess 2013) bis hin zur Verfolgung von Konfliktkonstellationen in teils gewaltvolle Kontexte hinein (Riedner 2018, Hess/Tsianos 2020). Entsprechend eruiert die Tagung Möglichkeiten kollaborativer und sorgender Forschung in polarisierten Feldern und spannungsreichen Forschungsbeziehungen.

Das Göttinger Tagungsteam
Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie und Geschlechterforschung
Kontakt: frictions@uni-goettingen.de


Literatur

Bayramoglu, Yener/ Castro Varela María do Mar (2021): Post/pandemisches Leben: eine neue Theorie der Fragilität. Bielefeld: transcript.
Bonacker, Thorsten (2009): Konflikttheorien. In: Kneer, Georg/Schroer, Markus (Hg.): Handbuch soziologische Theorien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 179-197.
Butler, Judith (1990): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. London/New York: Routledge.
Faust, Friederike (2019): Fußball und Feminismus: Eine Ethnografie geschlechterpolitischer Interventionen. Opladen: Budrich UniPress.
Faust, Friederike (u.a.) (2024): Crimscapes: Kulturanthropologische Perspektiven auf Politiken der Kriminalisierung. In: Zeitschrift für Empirische Kulturwissenschaft 120/2, S. 217-241.
Faust, Friederike (u.a.) (2021): Reibung als Potential: Kollaboratives Forschen mit HIV/Aids-Aktivist*innen. In: Berliner Blätter 83/1, S.49-65.
Fröhlich, Marie (u.a.) (Hg.) (2022): Politiken der Reproduktion: Umkämpfte Forschungsperspektiven und Praxisfelder. Bielefeld: transcript.
Gramsci, Antonio (1991 [1926]): Gefängnishefte. 1929-1935. Frankfurt a. M.: Argument Verlag.
Gutekunst, Miriam (2021): Im Namen der Frauen? Umkämpftes Wissen im gegenwärtigen Engagement gegen sexualisierte Gewalt. In: Hamburger Journal für Kulturanthropologie 13, S. 190-201.
Halberstam, Judith (1998): Female Masculinity. London: Duke University Press.
Hark, Sabine (u.a.) (2015): Das umkämpfte Allgemeine und das neue Gemeinsame. Solidarität ohne Identität. In: Feministische Studien 33/1, S. 99-103.
Hark, Sabine (2017): Kontingente Fundierungen: Über Feminismus, Gender und die Zukunft der Geschlechterforschung in neo-reaktionären Zeiten. In: Soziopolis: Gesellschaft beobachten. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-80522-8
Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (2017): Unterscheiden und herrschen: Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. Bielefeld: Transcript.
Hark, Sabine (2021): Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation. Berlin: Suhrkamp.
Hess, S./Tsianos, V. (2010). Ethnographische Grenzregimeanalyse. In: Hess, S./Kasparek, B. (Hrsg.): Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Berlin: Assoziation A.: 243-264.
Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (2012): Deutsche Zustände, Folge 10. Berlin: Suhrkamp.
Heywood, Paolo (2018): After Difference. Queer Activism in Italy and Anthropological Theory. London/New York: Berghahn Books.
Künzel, Christine/Bolz, Manuel (Hg.) (2024): Rape and Revenge. Rache-Kulturen und sexualisierte Gewalt in intermedialer Perspektive. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Kuhn, Ina (2024): Laboratorien des guten Lebens: Wie Utopie-Festivals eine alternative Zukunft erfahrbar machen. Münster: Waxmann.
Laufenberg, Mike (2022): Queere Theorien. Zur Einführung. Hamburg: Junius.
Mau, Steffen (u.a.) (2023): Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp.
Mouffe, Chantal (2014): Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin: Suhrkamp.
Näser-Lather, Marion (2023): Dimensions of Positioning. Conflictual Dynamics in the Field of Anti-“Genderism”. In: Public Anthropologist 5/2, S. 293-314.
Sistenich, Sascha (2025, im Erscheinen): Queering Care: Für_Sorge und Widerständigkeit in Zeiten der Krise. In: Felix Gaillinger (u.a.) (Hrsg.): Doing Law in familialen und verwandtschaftlichen Kontexten. Zum Verhältnis von Recht und Sorge im Alltag. Bielefeld: transcript.
Riedner, L. (2018). Arbeit! Wohnen! Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration. Münster: edition assemblage. Stryker, S. (1994). My words to Victor Frankenstein above the village of Chamounix: Performing transgender Rage. In: Lesbian and Gay Studies 1(3): 237–254.
Seeck, Francis (2021): Care trans_formieren: Eine ethnographische Studie zu trans und nicht-binärer Sorgearbeit. Bielefeld: transcript.
Verran, Helen (2001). Science and an African logic. Chicago: University of Chicago Press, 2001.
Wielowiejski, Patrick (2024): Rechtspopulismus und Homosexualität: Eine Ethnografie der Feindschaft. Frankfurt a. M.: Campus Verlag.
Zengin, Asli (2024): Violent Intimacies: The Trans Everyday and the Making of an Urban World. Durham/London: Duke University Press.