Die empirische Leseliste. Ein Kommentar
Inhalt
- 1. Kurzbeschreibung
- 2. Warum braucht es (noch) eine neue Leseliste?
- 3. Die Idee hinter der neuen Liste
- 4. Die Datengrundlage: Leselisten-Korpus
- 5. Das Verfahren für die Auswahl der Titel: Prosa und Drama
- 6. Das Vorgehen und die Herausforderungen bei Lyrik
- 7. Die Listen
- 7.1 Prosa und Drama
- 7.2 Lyrik
- 8. Der Status der Liste(n) und weitere Schritte
1. Kurzbeschreibung
Die vorliegende empirische Leseliste basiert auf der quantitativen Auswertung von 42 universitären Leselisten. Sie stellt einen Konsens-Vorschlag dar, insofern sie datengestützt und kriteriengeleitet eine begrenzte Anzahl an Titeln aus dem Bereich ‚Neuere deutsche Literatur‘ zusammenstellt, auf die sich möglichst viele Fachvertreter*innen an verschiedenen Universitäten im deutschsprachigen Bereich einigen konnten. Konzipiert wurde sie für Bachelor- und Masterstudierende – sowohl des (ausschließlich) fachwissenschaftlichen als auch des Lehramtsstudiums. Die empirische Leseliste setzt sich aus einer Prosa-/Dramenliste (70 Titel) und einer Lyrikliste (ca. 1.400 Titel) zusammen. Die aktuell vorliegende Version wird zukünftig weiterentwickelt und ergänzt werden.
2. Warum braucht es (noch) eine neue Leseliste?
„Eine Lektüreliste, hinter der man steht und die ihre Kriterien und Entscheidungen offenlegt, ist allemal besser als Orientierungslosigkeit, perspektivlose Offenheit und Ad-hoc-Entscheidungen.“ (Hein 1990, 339)
Derzeit nehmen sich viele literaturwissenschaftliche Institute und Seminare des Vorhabens an, Leselisten für ihren Standort zu erstellen. Auch das Seminar für Deutsche Philologie in Göttingen verfügt seit Jahren über eine eigene Leseliste. Warum sollte es noch eine weitere brauchen?
Ausgangspunkt für die Entwicklung einer neuen Leseliste bildeten verschiedene Kritikpunkte, die nicht nur die Göttinger Leseliste, sondern auch die meisten anderen Leselisten treffen:
Auch wenn Leselisten Entscheidungsprozesse von Studierenden zur Lektüre im Studium erleichtern können, lassen sie zumeist unklar, warum bestimmte Titel gelesen werden sollten. Die Göttinger Leseliste gibt keine Auswahlkriterien an, aber auch andere universitäte Leselisten lassen ihre Auswahlkriterien – wenn sie welche angeben – sehr allgemein und generisch Angegeben werden zumeist Kriterien wie ‚Repräsentativität‘, ‚literarhistorische Bedeutsamkeit‘, ‚Vielfalt‘, etc. Dass bei der Auswahl von Listentiteln weitere Faktoren wie ‚Textlänge‘, ‚individuelle Präferenzen‘, ‚Aushandlungsprozesse und Konsensentscheidungen‘ (auf welche Titel können sich Beteiligte gut einigen?), ‚Aufwand für die Erstellung der (Lyrik)liste‘, ‚gleichmäßige Abdeckung über alle Epochen hinweg‘ – zusammengefasst: gewisse Praxiseffekte – eine Rolle gespielt haben werden, bildet das Endprodukt Leseliste in der Regel nicht ab.
3. Die Idee hinter der neuen Liste
Eine weitere Leseliste nach dem gleichen Verfahren zu erstellen, könnte den genannten Kritikpunkten nicht angemessen begegnen. Stattdessen wurde ein anderes Vorgehen bevorzugt: Das Besondere der neuen ‚empirischen‘ Liste liegt in der Idee, die bereits vorhandenen Ressourcen zu nutzen und eine Art Konsens zu erzeugen, so dass die beschriebenen Praxiseffekte teilweise ausgeglichen werden können. Alle existierenden und online verfügbaren universitären Leselisten im deutschsprachigen Bereich – immerhin 42 Listen, an denen mehrere Fachvertreter*innen literaturwissenschaftlicher Institute mitgewirkt haben – wurden quantitativ ausgewertet, um auf der Basis dieser Daten eine neue Leseliste zu erstellen. Die Zusammenstellung der Liste erfolgt demnach datengetrieben, kriteriengeleitet und ‚objektiviert‘, insofern möglichst keine eigenen Wertungen einfließen. Doch auch in diesem Prozess mussten an bestimmten Stellen normative Entscheidungen getroffen werden, die im Folgenden transparent gemacht werden.
4. Die Datengrundlage: Leselisten-Korpus
Zur Korpuserstellung wurde die Anzahl der germanistischen Institute im deutschsprachigen Raum ermittelt; sie beläuft sich auf 76 Institute. Für 38 Institute, etwa die Hälfte der Gesamtanzahl, konnte eine Leseliste recherchiert werden. In manchen Fällen sind zwei Listen vorhanden, die jeweils beide berücksichtigt wurden. Alle online zu findenden Listen wurden in die anschließende Auswertung einbezogen, da von einer gewissen Aktualität dieser Listen ausgegangen werden kann und sie zumindest wiedergeben, was ihre Produzent*innen für ‚leselistenwürdig‘ erachtet haben.
Die Datengrundlage bildet damit ein Korpus aus 42 Leselisten folgender Universitäten bzw. Hochschulen: Aachen (Fachstudium und Lehramt), Augsburg, FU Berlin, Bochum, Braunschweig, Dortmund, Eichstätt-Ingolstadt, Frankfurt a. M., Gießen, Göttingen, Graz, Heidelberg, Hildesheim, Innsbruck (2), Jena, Karlsruhe, Koblenz, Köln, Lausanne, Leipzig, Lüneburg, Luxembourg, Magdeburg, Mannheim, München, Oldenburg, Osnabrück, Passau, Potsdam, Saarland, Salzburg, Stuttgart (2), Trier, Tübingen, Wien, Wuppertal, Würzburg (2), Zürich.
Bei den Listen, die nicht Grundlage einer Prüfungsleistung sind – immerhin 69,05 % der erhobenen Listen –, kann nichts über die Einbindung ins Studium ausgesagt werden. Möglich ist demnach ein breites Spektrum: von Leselisten, die keine Relevanz für das Studium besitzen, bis zu solchen, die in die Seminare sowie Vorlesungen integriert und auch aktiv bearbeitet werden.
Die auf den Listen aufgeführten Titel wurden händisch in eine Excel-Tabelle eingetragen, um eine quantitative Auswertung zu ermöglichen. Nicht alle in den Leselisten genannten Titel wurden in die Datenauswertungen übernommen. Maßstab war unser Untersuchungsgegenstand der Neueren deutschen Literatur. Nicht berücksichtigt wurden daher Texte aus der Antike, dem Mittelalter und der nicht-deutschsprachigen Literatur. Ebenfalls ausgeschlossen wurden die (seltenen) Nennungen aus dem Bereich der Literaturwissenschaft (z.B. Literaturgeschichten, Einführungsliteratur, Lexika und Fachzeitschriften), zudem Anthologien. Als Sammelwerke sind sie nur schwer mit anderen Titeln vergleichbar. In der Auswertung berücksichtigt wurden allerdings poetologische und essayistische Texte; auch Titel aus dem Bereich der Kinder- und Jugendliteratur wurden einbezogen.
Für jeden Leselisteneintrag wurden folgende Informationen erhoben:
- der Name des*der Autor*in,
- in Übernahme der GND-Daten das Geschlecht (m/w) des*der Autor*in,
- der Titel des Werkes,
- das Veröffentlichungsjahr und
- die Gattung (Prosa, Drama, Lyrik, Poetik/Essayistik, Sonstiges) des Werkes.
Da die Angaben in den Leselisten nicht immer vollständig und zum Teil sehr heterogen sind, mussten Informationen des Öfteren recherchiert werden.
5. Das Verfahren für die Auswahl der Titel: Prosa und Drama
Für die Erstellung der Dramen- und Prosaliste wurde zunächst die Anzahl der aufzunehmenden Titel auf 70 beschränkt. Hierbei handelt es sich um keine gemittelte Zahl aller Leselisten im Korpus; statt dessen hat sich das Projektteam entschieden, den Zeitaufwand der Studierenden stärker zu berücksichtigen.
Wenn ein möglichst ‚objektiviertes‘ Vorgehens angestrebt wird, liegt es nahe, der empirischen Leseliste die Auswertung nach Häufigkeit genannter Titel zugrunde zu legen bzw. eine Liste mit den insgesamt am häufigsten genannten Titeln zu erstellen. Eine Besonderheit stellten die Auswahllisten dar: Wenn manche Listen für einen zu lesenden Titel mehrere Optionen anführen (etwa: Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper oder Mutter Courage) zählt nicht jeder als Option genannte Titel so viel wie ein obligatorisch zu lesender. Wir haben diese optionalen Titel gemäß ihrer Wertigkeit einbezogen (etwa: Die Dreigroschenoper und Mutter Courage zählen jeweils als 0,5 Titel). (Genauer wird unser Auswertungsverfahren erläutert in: Jana Eckardt, Frederik Eicks, Sören Kleist, Julia Wagner, Simone Winko: Leselisten als Textsorte und universitäre Kanonisierungsinstanz. Empirische Untersuchungen. In: IASL 50/2 (2025))
Berücksichtigt man allein die Häufigkeit der Titel gerät ihre Verteilung nach Epochen ins Hintertreffen. Bezieht man die Kategorie ‚Epoche‘ mit ein, steht man jedoch vor den Schwierigkeiten der unklaren Epochenzuordnung für einzelne Leselistentitel und der zeitlichen Überschneidung von Epochen. Aus diesen Gründen wurde ein Ansatz bevorzugt, der die Verteilung der Titel nach Dekaden vorsieht. Die quantitative Auswertung ergab, dass die Verteilung der Titel nach Dekaden im Korpus stark variiert. Beispielsweise werden Titel aus der Dekade 1630 bis 1640 weniger häufig auf Leselisten berücksichtigt als Titel aus den 1920er Jahren, was einzubeziehen war: Ausgehend von der Verteilung nach Dekaden wurde ermittelt, wie viele Plätze auf einer Leseliste mit 70 Titeln jedem Jahrzehnt (ab 1600) zustehen. Den vorhandenen Plätzen wurden schließlich die meistgenannten Titel in den jeweiligen Jahrzehnten zugewiesen. Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass in manchen Fällen eine unverhältnismäßige Häufung einzelner Autoren (in Relation zur begrenzten Titelanzahl der Leseliste) entsteht. Daher wurden zwei weitere Regeln für die Titelauswahl von dem Projektteam festgelegt: a) Es werden insgesamt maximal drei Titel pro Autor*in aufgenommen und b) es wird maximal ein Titel pro Autor*in pro Dekade zugelassen.
6. Das Vorgehen und die Herausforderungen beim Erstellen der Lyrikliste
Im Gegensatz zu Prosa und Drama werden in den ausgewerteten Leselisten nur selten einzelne Gedichttitel oder -bände genannt. Häufig werden nur Lyriker*innen angegeben, deren Werke gelesen werden sollen, oder es wird auf eine Lyrikanthologie verwiesen. Der daraus resultierenden geringen Sichtbarkeit der Lyrik auf den Leselisten wollen wir mit dieser Lyrikliste entgegenwirken.
Aufgrund des heterogenen Umgangs mit der Lyrik und des daraus resultierenden kleineren Datensatzes kann die Lyrikliste nicht wie die Prosa-Drama-Liste erstellt werden. Dennoch wurde versucht, sie nach möglichst ähnlichen Prinzipien wie die andere Liste zu gestalten, um auch für die Lyrik eine empirisch fundierte Zusammenstellung zu erhalten. Beide Listen stehen gleichwertig nebeneinander, und die Schwierigkeit bei der Erstellung der Lyrikliste ist das Symptom des Umgangs mit dieser Gattung in den universitären Leselisten.
Wie aus den Daten die Lyrikliste entstanden ist, wird im Folgenden dargestellt:
Die Grundlage für die Anzahl der Titel auf der Lyrikliste ist die von Heinrich Detering herausgegebene Anthologie Deutsche Lyrik, die auf der Göttinger „Leseliste der NdL des Seminars für Deutsche Philologie“ angegeben wird. Sie umfasst ca. 1.400 Titel. Diese Anzahl haben wir in die neue Lyrikliste übernommen und auf die meistgenannten Lyriker*innen aufgeteilt.
Fall 1: Es wurden nur Einzeltexte genannt. Dann nahmen wir Bände, Zyklen oder später eingerichteten Sammlungen auf, in denen die Einzeltexte vorkommen. Die Gedichtbände oder Zyklen sind mit „[1]“ gekennzeichnet.
Fall 2: Es wurde nur allgemein auf „Gedichte“ der Lyriker*innen verwiesen. Dann haben wir entweder Bände, Zyklen oder später eingerichtete Sammlungen in die Lyrikliste aufgenommen. Diese Gedichtbände oder Zyklen sind mit „[2]“ gekennzeichnet.
7. Die Listen
Wie oben erläutert, haben wir zwei nach Gattungen unterschiedene Leselisten erstellt: eine Liste für die Prosa- und Dramentexte, eine für die Lyrik. Hier können Sie auf die empirisch erstellte Leselisten zugreifen und sie sich in verschiedenen Anordnungen anzeigen lassen.
7.1 Prosa und Drama
- chronologisch geordnet
- in alphabetischer Reihenfolge nach den Namen der Autor:innen
- in der ‚Rangordnung‘ nach (empirisch erhobenem) Kanonizitätsstatus
7.2 Lyrik
- chronologisch geordnet
- in alphabetischer Reihenfolge nach den Namen der Autor:innen
- in der ‚Rangordnung‘ nach (empirisch erhobenem) Kanonizitätsstatus
8. Der Status der Liste(n) und weitere Schritte
Bei der vorliegenden Liste handelt es sich (noch) nicht um die neue offizielle Göttinger Leseliste. Es bleibt eine offen zu diskutierende Frage, inwieweit das angewandte Verfahren und die damit erzielten Ergebnisse tatsächlich eine Verbesserung gegenüber herkömmlichen Leselisten darstellen. Zumindest bildet die empirische Liste den Ist-Zustand der Titel bzw. Autor*innen ab, die im Fach als besonders relevant für ein Studium der Neueren deutschen Literatur eingeschätzt werden, und kann eine größere Verbindlichkeit als jede einzelne der ausgewerteten Listen beanspruchen.
Die Arbeit an der empirischen Leseliste ist zugleich noch längst nicht abgeschlossen: a) Die Titel werden zurzeit noch isoliert bzw. kontextlos aufgeführt. Um den Studierenden den Umgang mit der Liste und den Zugang zu Orientierungswissen zu erleichtern, werden – durch Studierende – sukzessive weitere Informationen zu den Titeln in Form von Begleittexten ergänzt. b) Es wird zusätzlich auf weiterführende Informationen verlinkt. c) Die empirische Leseliste in ihrer derzeitigen Form stellt nur einen Baustein eines größeren Projekts dar, das weitere zu ergänzende, fakultative Leselisten enthalten soll.