74. Jahrgang (2024), 1. Halbband

Resümees
Gartenbau- oder einfache Agrargesellschaften
Gartenbau- oder einfache Agrargesellschaften liegen historisch und systematisch in der großen, langen und ihrerseits vielfältigen Zone zwischen einfachen Wildbeuter- und Bauerngesellschaften. Sie sind komplexer, das heißt nicht nur größer und beziehungsreicher, sondern auch dynamischer und instabiler als einfache Jäger- und Sammlergesellschaften, anders als typische Bauerngesellschafen jedoch weder von Märkten durchsetzt noch einer zentral(staatlich)en Herrschaft unterworfen. Sie repräsentieren gleichwohl einen für die weitere soziokulturelle Entwicklung wichtigen, eigenständigen Gesellschaftstyp. Ihre Mitglieder sind sesshaft; sie entwickeln nicht nur ein Wildbeutern gegenüber instrumentelleres Naturverhältnis, sondern auch ausgefeilte Verwandtschaftssysteme, mit organisierter kollektiver Gewalt oder Kriegen, Priestern und Gottesvorstellungen, Patronen und Klientelen zudem Formen von Sozialität, die in einfachen Jäger- und Sammlergesellschaften nur erst embryonal angelegt sind.
Valeska Koal
„Die Fürtrefflichkeit des Friedens“ – Zur politischen Dimension von Tanz und Musik in der Festkultur des Alten Reiches im 17. Jahrhundert
Die vorliegende Studie untersucht die Festkultur des Heiligen Römischen Reiches im Kontext europäischer Friedensprozesse des 17. Jahrhunderts. Innerhalb der Fülle und künstlerischen Vielfalt höfischer Festivitäten fungieren insbesondere tänzerisch-musikalische Darbietungen wie das Ballet de cour als Repräsentationen des Friedens, der Harmonie, Einheit und Freundschaft, was an vier beispielhaften Divertissements über einen Zeitraum von 60 Jahren aufgezeigt wird: zum einen das „Kopf-Balleth“ und das „Balleth der Spiegelmacher“ des Stuttgarter Tauffestes von 1616 im Herzogtum Württemberg, zum anderen das „Frauen-Zimmer- und Mohrenballett“ und das „Ballet von Zusammenkunfft und Wirckung derer sieben Planeten“ anlässlich des Treffens des sächsischen Kurfürsten Johann Georg II. und seiner drei jüngeren Brüder im Jahr 1678 in Dresden, die sogenannte „Durchlauchtigste Zusammenkunft“. Durch die vergleichende Analyse unterschiedlicher Medientypen (Bild – Text – Musiknotation) ergeben sich neue Erkenntnisse, wie die Leitmotivik des Friedens inszenatorisch umgesetzt und gedeutet wird und welche transkulturellen Einflüsse sowie politischen Motivationen und Strategien hinter den ästhetischen Konzepten und kulturellen Praktiken stehen.
Stefanie Samida
Verflochtene Geschichte – zwei Heidelberger Gelehrte während der NS-Zeit: Der Prähistoriker Ernst Wahle und der Volkskundler Eugen Fehrle
Im Zentrum des Beitrags steht die Beziehungsgeschichte zweier ungleicher Wissenschaftler, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beide über lange Jahre an der Universität Heidelberg tätig waren: der Prähistoriker Ernst Wahle (1889–1981) und der Volkskundler Eugen Fehrle (1880–1957). Anlass für die Beschäftigung mit den beiden Protagonisten ist ein Aktenfund im wissenschaftlichen Nachlass von Ernst Wahle. Über diesen werden zum einen institutionelle und personelle Verwebungen von Volkskunde und Ur- und Frühgeschichte an der Universität Heidelberg in der NS-Zeit sichtbar; zum anderen markieren die Schriftstücke ein Puzzleteil in einer bislang fehlenden Geschichte der Heidelberger Volkskunde
Sascha Hinkel/Michael Pfister
Die Lehre Pius’ XII. (1939–1958) zum Atomkrieg. Zur Textgenese päpstlicher Ansprachen
Die Debatten über Krieg und Frieden, über Aufrüstung und Atomwaffen in den 1950er-Jahren, die heute wieder erschreckend aktuell erscheinen, wurden nicht nur an Kabinettstischen und in Parlamenten geführt. In der Frühphase des Ost-West-Konflikts debattierten Menschen weltweit über die atomare Bedrohung. In diese oft kontroversen Diskussionen brachten sich auch Katholikinnen und Katholiken in allen Erdteilen ein, besonders medienwirksam aber ihr Oberhaupt Pius XII. Mit Ansprachen versuchte der Papst die ethischen Fragen rund um einen drohenden Atomkrieg für die katholische Kirche zu beantworten und zugleich Weltpolitik zu betreiben. Über die Hintergründe der öffentlichen Stellungnahme Pius’ XII. geben die seit 2020 zugänglichen Bestände der Vatikanischen Archiv Aufschluss. Der Beitrag geht auf der Basis neuer Quellen der Entstehungsgeschichte der mitunter schillernden päpstlichen Äußerungen nach und verortet sie in zeitgenössischen Diskursen. Dabei werden auch der Einfluss des Netzwerks von Vertrauten des Papstes – unter ihnen der deutsche Jesuit Gustav Gundlach – und das Ringen hinter vatikanischen Mauern deutlich.
Wolfgang Reinhard
Wachstumszwang und Alteritätswahn. Von selbstreferentieller Geschäftigkeit zum Fundamentalismus der Diversität. Ein historisch-anthropologischer Versuch
Dieser Essai versucht zunächst eine kosmologische, biologische und philosophische Verortung des Menschen und seiner Entwicklung zum politischen Wesen (1). Mit der Beschleunigung der Entwicklung im Zuge der neolithischen Revolution entsteht das universale Prinzip des wirtschaftlichen Wachstums, das sich im Laufe der Zeit ergänzend differenziert als naturwissenschaftlich-technologischer Fortschritt, als Staatsbildung und als globale Expansion, alle vier unter europäischer Führung. Der Weg des Menschen führt dabei von der Not zum Luxus und weiter von nachfragegeleiteter Produktion zur angebotsorientierten Konsumexpansion als Zweck der Wirtschaft mit dem Höhepunkt der autonomen Finanzwirtschaft als Zweck ihrer selbst (2). Anschließend werden kritisch und ausführlich die aktuellen Folgen dieser Entwicklung für Gesellschaft und Kultur analysiert (3). Der Wandel vom knappen Überleben zum Schwelgen im ständigen Überfluss konnte nämlich nicht ohne Folgen bleiben. Denn die reichen Möglichkeiten brachten fundamentale Widersprüche hervor. Gier als universales Wachstumsprinzip begnügte sich nicht mit der Durchsetzung gleicher Rechte, sondern forderte paradoxerweise stattdessen diverse neue Privilegien (4): All animals are equal, but some animals are more equal than others (George Orwell).
Martin Klüners
Der Krieg als Faktum und Fatum. Vom Mehrwert einer psychopathologisch informierten Geschichtsbetrachtung
Aus wissenschaftstheoretischer Sicht erschwert insbesondere der Gegensatz von Erste- und Dritte-Person-Perspektive die produktive Zusammenarbeit von Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft. Die menschliches Handeln motivierende Intentionalität gehört jedoch, ebenso wie mit ihr in engem Zusammenhang stehende psychische Realitäten – Affekte, Emotionen, Triebe, seelische Pathologien – der Sphäre der Erste-Person-Perspektive an. Eine sich auf die Untersuchung äußerer Faktoren beschränkende Geschichtsforschung ist daher im Grunde blind für tatsächliche Handlungsmotive sowie überdies für Irrationalitäten und Pathologien des historischen Prozesses. Am Beispiel des Kriegs, der entgegen immer noch weit verbreiteten Anschauungen dem menschlichen Wesen nicht von Natur aus inhärent ist, sondern gewissermaßen ein pathogen bedingtes „Desintegrationsprodukt“ darstellt, soll veranschaulicht werden, welchen Mehrwert eine psychopathologisch informierte Geschichtsbetrachtung gegenüber herkömmlichen Ansätzen besitzt: Zum einen wird dadurch der Blick geschärft für die traumatisierenden Wirkungen, die von Krieg und Bellifizierung ausgehen, zum anderen werden auch vorstellungsgeschichtliche Phänomene wie etwa die Entstehung des Monotheismus überhaupt erst in ihrer eigentlichen, un- und vorbewussten Intentionalität verständlich. Wie die tiefenhermeneutische Interpretation des biblischen Buches Jesaja zeigt, handelt es sich beim judäischen Monotheismus um eine Bewältigungsstrategie für die seelischen Folgeschäden, die mit akuter Existenzbedrohung im Rahmen militärischer Aggression grundsätzlich verbunden sind. Durch die Einbeziehung psychopathologischer Kategorien eröffnet sich dem historistischen Forschungsmodell überdies die Chance, seinen viel kritisierten Wertrelativismus zu überwinden.